Wasserreiche Ortsgeschichte Scheidegg
Der Scheidegger Isbär
Dieser mußte früher in der Umgegend viel herhalten, wenn man die Scheidegger sticheln oder foppen wollte. Die Geschichte davon aber ist folgende:
Zur strengen Winterszeit brachte einst ein Mann die Meldung nach Scheidegg, draußen im Röhrach hause unter einem überhangenden Felsen der gänzlich vereisten Schlucht ein wildes Tier mit langhaarigem, zottigem, aber schneeweißem Pelz; das gebärde sich entsetzlich zornig und wild, so daß die größte Gefahr sei, es möchte die in der Nähe vorbeikommenden Fußgänger überfallen und so großes Unheil anstiften. Dem zuvorzukommen, taten sich einige kuraschierte Jäger und der Pfarrer des Ortes, der zuweilen auch der Jagd oblag, zusammen und zogen hinaus das Untier zu erlegen, das der Beschreibung nach, weil es in der winterlich vereisten Schlucht hauste, wie sie dafürhielten, nur ein Eisbär sein konnte. Die Männer luden also ihre Gewehre und zogen hinaus in das Röhrach. Hier kamen sie richtig alsbald auf die Fährte des Tieres und hörten es auch schon heulen. Sie verfolgten die Spur weiter; aber als sie des Tieres ansichtig wurden, das fürchterlich schrie, warfen die einen die Flinte weg und kletterten auf die Bäume, die anderen flohen überhaupt davon; nur der Pfarrer hielt stand, legte an, schoß und streckte das Tier nieder, so daß es regungslos liegen blieb. Nun faßten die auf den Bäumen wieder Kurasche, kletterten herab und rückten vorsichtig näher. Sie stupsten das Tier; es regte sich nicht mehr, war also gut getroffen worden. "Wahrhaftig, es ist ein Isbär!" riefen sie, als sie das langhaarige, zottelige Ding jetzt eingehend betrachteten. Dann machten sie eine Tragbahre, und im Triumphe ward der Eisbär hineingetragen nach Scheidegg in des Pfarrers Tenne. Der Pfarrer aber ging hinüber in die Schule und sprach: "Buben, jetzt haben wir das wilde Tier; es ist ein prächtiger Eisbär, und weil ihr einen Eisbären nicht alle Tage sehen könnt, so will ich euch jetzt hinüberführen und ihn euch zeigen."
Als die Buben alle voller Neugierde die Jagdbeute eine Zeitlang umstanden und betrachtet hatten, unterbrach auf einmal einer, der sonst immer in der Schule tat, als ob er nicht auf fünfe zählen könnte, die Stille und platzte heraus: "I mui allweil dös ist a Hünte!"
In der Tat war der vermeintliche Isbär nichts anderes als ein weißzottiger Schäferhund, der einem Schäfer aus dem Württembergischen verloren gegangen war.
Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 300, S. 307f.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005